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Arm trotz Arbeit
Mehr Arbeit ist keine Garantie für weniger Armut!
13-07-2017 - In Deutschland hat sich Erwerbsarmut seit 2004 verdoppelt – stärkster Anstieg unter 18 EU-Ländern
Immer mehr Menschen in Europa sind arm, obwohl sie arbeiten. Am stärksten stieg die sogenannte Erwerbsarmut in den vergangenen Jahren in Deutschland: Zwischen 2004 und 2014 hat sich der Anteil der "working poor" an allen Erwerbstätigen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren verdoppelt.
Das hängt auch damit zusammen, dass Arbeitslose stärker unter Druck stehen, eine schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts [WSI] der Hans-Böckler-Stiftung. Dr. Dorothee Spannagel, Dr. Daniel Seikel, PD Dr. Karin Schulze Buschoff und Helge Baumann haben untersucht, wie sich arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen, die Menschen schneller in Jobs bringen sollen, auf die Erwerbsarmut in 18 EU-Ländern ausgewirkt haben. Datengrundlagen sind die neuesten verfügbaren Zahlen aus der Europäischen Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen [EU-SILC] und eine OECD-Datenbank.
Der Anteil der armen oder armutsgefährdeten Erwerbstätigen in der EU betrug im Jahr 2014 rund zehn Prozent – gemessen nach den gängigen EU-Statistikstandards an der erwerbstätigen Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 64 Jahren. Obwohl sie regelmäßig arbeiten, müssen diese Menschen mit weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens in ihrem Land auskommen. Am höchsten war der Anteil in Rumänien mit 18,6 Prozent, gefolgt von Griechenland mit 13,4 Prozent und Spanien mit 13,2 Prozent. Mit 4,5 Prozent oder weniger hatten Belgien, die Tschechische Republik und Finnland die geringsten Erwerbsarmutsquoten.
Deutschland lag mit 9,6 Prozent genau im Durchschnitt der EU-Länder.Das Beispiel Deutschland sei "besonders bemerkenswert", so die Forscher.
Einerseits stieg die Beschäftigungsrate zwischen 2004 und 2014 stärker als in jedem anderen europäischen Land, andererseits verzeichnete Deutschland den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmut – trotz eines kleinen Rückgangs von 2013 auf 2014. Wie passt das zusammen?
"Offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen Beschäftigungswachstum und Armut komplizierter als gemeinhin angenommen", so die Wissenschaftler.
Mehr Arbeit sei keine Garantie für weniger Armut – zumindest dann nicht, wenn die neuen Jobs niedrig entlohnt werden und/oder nur einen geringen Umfang haben.
Die positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt beruhe zu einem großen Teil auf einer Zunahme atypischer Beschäftigung, vor allem Teilzeit, häufig im Dienstleistungsbereich und im Niedriglohnsektor. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors sei durch weitgehende Deregulierungen des Arbeitsmarktes, die Kürzung von Transferleistungen und verschärfte Zumutbarkeitsregelungen beschleunigt worden. Der Druck auf Arbeitslose sei gestiegen, möglichst schnell eine Arbeit zu finden. "Maßnahmen, die Arbeitslose dazu zwingen, Jobs mit schlechter Bezahlung oder niedrigem Stundenumfang anzunehmen, können dazu führen, dass die Erwerbsarmut steigt, weil aus arbeitslosen armen Haushalten erwerbstätige arme Haushalte werden", schreiben die Wissenschaftler.
Die Anfänge dieser sogenannten Aktivierungspolitik, in Deutschland bekannt unter dem Stichwort "Fördern und Fordern", reichen zurück in die 1990er-Jahre. Eine ähnliche Entwicklung wie in Deutschland fand auch in anderen europäischen Ländern statt, wenn auch zunächst nicht so tiefgreifend. Im Zeitraum zwischen 2004 bis 2014 ist es nur in Polen gelungen, die Beschäftigung zu erhöhen und gleichzeitig die Erwerbsarmut zu senken. In Österreich und der Tschechischen Republik gab es ähnlich wie in Deutschland einen vergleichsweise starken Beschäftigungsanstieg, allerdings hier nur geringfügig mehr armutsgefährdete Erwerbstätige.
In den meisten Ländern ist die Erwerbsarmut schon vor Beginn der Krise im Euroraum gestiegen. Im Zuge der Krise hat sich die Lage in etlichen Staaten noch verschärft: Die Rezepte zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit sahen eine weitere Deregulierung der Arbeitsmärkte sowie eine Kürzung von Transferleistungen vor. In einigen Krisenländern, allen voran Griechenland, ging aber trotzdem die Erwerbstätigkeit so stark zurück, dass der statistische Anstieg bei der Erwerbsarmut relativ niedrig ausfiel.
Die Forscher können einen direkten Zusammenhang zwischen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und Erwerbsarmut belegen: Während niedrige Lohnersatz- und Sozialleistungen sowie strenge Auflagen für den Bezug von Transferleistungen zu höherer Erwerbsarmut führen, wirken sich hohe Ausgaben für aktive Arbeitsmarktmaßnahmen wie Aus- und Weiterbildung positiv aus:
"Unsere Ergebnisse verdeutlichen, dass eine Kombination aus investiver aktiver und passiver Arbeitsmarktpolitik in Form von auskömmlichen Lohnersatz- und Transferleistungen der beste Weg ist, um Erwerbsarmut zu bekämpfen", schreiben die WSI-Experten. Immerhin sei der Mindestlohn ein erster Schritt zur Reduzierung der Armutsgefährdung von Erwerbstätigen. Weitere Maßnahmen zur Eindämmung des Niedriglohnbereiches müssten folgen. Möglichkeiten der beruflichen Qualifikation und Weiterbildung sollten ausgebaut und für atypisch Beschäftigte beziehungsweise für Beschäftigte im Niedriglohnbereich geöffnet werden, empfehlen die Wissenschaftler. Hartz-IV-Leistungen sollten erhöht, Sanktionen und Zumutbarkeitsregeln entschärft werden.
Quelle: Hans Böckler Stiftung
Information zur Methode: Als erwerbsarm gelten nach Definition der EU Personen, die im Jahr mehr als sechs Monate erwerbstätig sind und in einem Haushalt leben, der mit weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens der Bevölkerung auskommen muss. Für Deutschland bedeutet das beispielsweise: Ein Alleinstehender, der weniger als 869 Euro netto im Monat verdiente, war im Jahr 2012 armutsgefährdet. Bei einem Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lag die Armutsschwelle bei 1.826 Euro.
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